Aktuelle Empfehlungen
Mia Raben: Unter Dojczen
Und wieder einmal hat es der Kjona Verlag geschafft, mit einem ganz besonderen Buch zu begeistern: „Unter Dojczen“ von Mia Raben. Es erzählt die Geschichte von Jola, einer polnischen Pflegekraft, die zu einer hanseatischen Matriachin entsendet wird, mit deren Temperament scheinbar nicht gut Kirschen essen ist …
Gleichermaßen tiefgründig und leichtfüßig widmet sich der Debütroman einem gesellschaftlichen Thema, das uns alle angeht – ca. 5 Mio. Menschen in Deutschland sind pflegebedürftig, viele von ihnen werden von polnischen Frauen gepflegt, wobei das Ganze in einer rechtlichen Grauzone abläuft.
Jola wird in einem Kleinbus aus Polen kommend vor einer noblen Villa in Hamburg abgeliefert wie ein Paket. Sie soll dort Ursula „Uschi“ von Klewen betreuen, eine Matriarchin einer Hamburger Arztfamilie, die schon so einige Pflegekräfte vor ihr in die Flucht geschlagen hat. Jola ist ausgebrannt und aufgrund ihrer vorherigen Erfahrungen überaus vorsichtig und stets in Habachtstellung. Doch Uschi und ihre Familie begegnen Jola mit Respekt und Wertschätzung, sodass sie langsam aufatmen und ihre Vergangenheit aufarbeiten kann. Es entwickelt sich eine Freundschaft zwischen der Pflegenden und der Gepflegten, und schließlich vertraut Jola Uschi ihr größtes Geheimnis an …
Julie von Kessel „Die andern sind das weite Meer“
Der Titel dieses Buches greift ein wunderschönes gleichnamiges Gedicht von Mascha Kaleko auf, welches auch die Stimmung dieses schönen Romans perfekt einfängt: „Du aber bist der Hafen. So glaube mir: kannst ruhig schlafen, Ich steure immer wieder her. Denn all die Stürme, die mich trafen, Sie ließen meine Segel leer. Die Andern sind das bunte Meer, Du aber bist der Hafen. Du bist der Leuchtturm. Letztes Ziel. Kannst Liebster, ruhig schlafen. Die Andern… das ist Wellenspiel, Du aber bist der Hafen.”
Luka, Tom und Elena Cramer – drei Geschwister, drei verschiedene Lebenssituationen, dreierlei Päckchen, die sie mit sich herumtragen – aber eines haben sie gemeinsam, Vater Hans Cramer, der langsam aber sicher in die Demenz abdriftet. Jeder an seiner eigenen Front kämpfend, wollen es die Geschwister nicht wahrhaben, Luca ist als Fernsehreporterin in Kriegsgebieten unterwegs, Tom wird von der Position als Leiter seiner psychiatrischen Klinik fest in der Zange gehalten und die jüngste, Elena, zieht sich immer mehr in sich selbst zurück, weil sie einer unangenehmen Wahrheit nicht ins Auge blicken möchte … Erst als Hans spurlos verschwindet, rücken die Geschwister wieder zusammen und finden aneinander Trost und Geborgenheit.
Ein seelenvoller Familienroman, der zeigt, wie viel Verständnis man von seiner eigenen Familie erfahren kann, löst man sich einmal von den mitgewachsenen Mustern und blickt mit einer neuen Sicht auf die Menschen, mit denen man groß geworden ist.
Abdulrazak Gurnah „Das versteinerte Herz“
Zwar ist der Titel „Das versteinerte Herz“ angelehnt an ein Stück von Shakespeare, doch eine Komödie ist das Buch ganz sicher nicht. „Mein Vater wollte mich nicht“ – mit diesem starken Satz beginnt das Buch und wird das Empfinden des siebenjährigen Salim auf den Punkt gebracht. Nur noch vage erinnert er sich an die glücklichen Stunden mit dem Vater, an die rosa Zuckerwatte. Momente der Innigkeit, die ihn mit dem Vater verbunden hatten. Plötzlich war der Vater weg, ausgezogen, und der Junge bringt dem verwahrlosten Mann nur noch das Essen. Es wird beschlossen, Salim zu seinem von ihm anfangs vergötterten Onkel Amir nach England zu schicken, eine Chance, der Willkür und Armut zu entfliehen und im Westen Demokratie und Freiheit zu finden. Studieren soll er Betriebswirtschaft, doch seine Liebe gilt der Literatur. Die Rechnung geht nicht auf. Seine Heimat, Sansibar, hat er verloren, in der neuen Heimat kommt er nur schwer an.
Der sensible Junge spürt immer mehr, dass über allem ein Familiengeheimnis lastet und um das herauszufinden, muss er, wenn auch Jahrzehnte später, zurück nach Sansibar.
Schnörkellos, eindringlich und sensibel erzählt, habe ich hier ein Buch gefunden, dass ich nicht so schnell vergessen werde (Petra Schulz).
Daniela Krien „Mein drittes Leben“
Linda, erfolgreiche Kunstmaklerin, glücklich verheiratet, passiert das Schlimmste, was man sich vorstellen kann. Ihre 17jährige Tochter Sonja verunglückt tödlich durch einen Verkehrsunfall. Sie droht an der Trauer zu zerbrechen, verlässt ihr Zuhause in Leipzig, da sie alles an ihre Tochter erinnert. Alltägliches spielt für sie keine Rolle mehr, Essen, Körperpflege, Kontakte – alles egal. Durch Zufall kommt sie an einen Dreiseitenhof in Ostdeutschland. Hier in diesem Dorf erhofft sie sich Anonymität. Wir begleiten Linda nicht nur durch die verschiedenen Phasen der Trauer, sondern auch bei ihrem Tagesablauf. Schwere, körperliche Arbeit, Versorgung der Tiere, ihre Zuneigung zu dem Hund Kaja lassen sie die Tage irgendwie überstehen, an Schlaf ist ohne Tabletten nicht zu denken. Mit großem Einfühlungsvermögen beschreibt Krien die Unmöglichkeit, nach so einem Schicksalsschlag wieder ein normales Leben zu führen. Anfangs nimmt sie die Dorfbewohner*innen kaum wahr, es dauert lange, bis sie auch von deren Leben und Schicksalen etwas mitbekommt. Dann kommt die Kündigung und sie muss das Dorf wieder verlassen.
Neben Verlust und Trauer ist es auch ein Roman über Freundschaft, Liebe und Neubeginn – und verbunden mit einer leisen Hoffnung (Petra Schulz).
Unsere August-Empfehlungen
Stefanie vor Schulte „Das dünne Pferd“
Kinder reagieren plötzlich allergisch auf Erwachsene, während diese ihren Nachwuchs allmählich vergessen und verwahrlosen lassen. Die Pflegekräfte Aria, die Heldin dieses Romans, und Marion packen kurzerhand die 15 Kinder ihrer Einrichtung in einen alten klapprigen Bus und bringen diese in ein verlassenes Badehotel an einem Strand in der Nähe von Einstadt. Das gefällt den dort ansässigen Bewohnern und Cowboys, die sich um ihren Anführer, den schwer durchschaubaren Imre Brandt scharen, so gar nicht, und als Aria am Strand auch noch ein vereinsamtes Pferd entdeckt und für sich beansprucht, eskaliert die Situation …
Ein rasanter Ritt in die Apokalypse vergleichbar mit „Die Straße“ von Cormac McCarthy, untermalt von märchenhaft anmutenden Elementen á la „Der Schneesturm“ von Wladimir Sorokin, über die sich trefflich sinnieren lässt und über allem schwebt der vor Schultsche Humor, bei dem kein Auge trocken bleibt, vor allem wenn es den nicht ganz hellen Cowboys an den Kragen geht! Ein feministischer Western, was will mensch mehr!
Elif Shafak „Am Himmel die Flüsse“
Elif Shafak ist eine meisterhafte Erzählerin und auch ihr neuester Roman nimmt uns mit auf eine Reise durch drei Zeitebenen, die lange nicht loslässt! Er beginnt mit einem Regentropfen, der auf das Haar des letzten mesopotamischen Königs Assurbanipal fällt. Ein grausamer und bibliophiler Mensch zugleich, der Teile des Gilgamesch-Epos, eine der ältesten überlieferten, schriftlich fixierten Dichtungen, sein Eigen nennt. Dieser Regentropfen wird uns auch durch die drei Zeitebenen begleiten – zu Arthur ins London des 19. Jahrhunderts, ein Junge aus der Gosse, der sich als der Erste Übersetzer des Epos einen Namen machen wird. Zu Narin, die als Neunjährige 2014 den grausamen Genozid an den Jeziden miterleben muss und zu Zaleekhah in die heutige Zeit, die eine besondere Verbindung zum Wasser hat, sich aber verloren und wurzellos fühlt. Die Lebenswege der drei sind eng miteinander verwoben und Elif Shafak verbindet Vergangenheit und Gegenwart so fließend miteinander, dass die Geschichte einen wahren Sog entwickelt. Ein traumhaft schöner Schmöker, gekonnt übersetzt aus dem Englischen von Michaela Grabinger!
Benedict Wells „Die Geschichten in uns“
Über sein eigenes Leben hat der Bestsellerautor Benedict Wells bisher kaum gesprochen, lieber erfand er Geschichten. Da es während der Corona-Pandemie kaum Lesereisen gab, plante er, in dieser Zeit eine Art Best-of seiner Gedanken auf seiner Homepage zusammenzustellen. Heraus gekommen ist ein sehr persönliches Buch über seine Kindheit, sein Leben mit Misserfolgen und dem Mut, immer weiter zu machen. Seine Eltern trennten sich, als er sechs Jahre alt war, die psychisch kranke Mutter zog mit ihm in die Schweiz. Dort war Benedict monatelang mit der Mutter allein, bis er zu seinem Vater kam, Richard von Schirach, einem charmanten, aber chaotischen Spielertyp, der sich von überall her Geld lieh. Nach seiner Schulzeit legte Benedict seinen Nachnamen ab und nahm den Namen Wells an (nach einer Figur aus dem Roman „Gottes Werk und Teufels Beitrag“) – eine Hommage an seinen Lieblingsschriftsteller John Irving. Trost spendeten ihm in seinem Leben die Bücher, die er las. Das Lesen, so sagt Benedict Wells, könne in manchen Momenten retten. Was für ein beruhigendes Gefühl! Im zweiten Teil des Buches gibt er, stets in Bezug zu seinem eigenen Leben und Schreiben, einen Workshop zum Thema Schreiben für künftige Schriftsteller*innen.
Claire Keegan „Das dritte Licht“
Irland zu Beginn der 1980er-Jahre. Mit leisen Tönen erzählt uns ein Mädchen aus der Ich-Perspektive ihre Zeit bei einer irischen Pflegefamilie. Der spiel- und trunksüchtige Vater liefert das Mädchen bei entfernten Verwandten, den Kinsellas, ab. Seine Frau ist schon wieder schwanger, es gilt also, ein Maul mehr zu stopfen und so wird das Mädchen zu der kinderlosen Familie gebracht. Der Vater verschwindet wieder, ohne Abschied, zurück bleibt das ratlose Mädchen. Sie erlebt eine völlig andere Welt, in der ihr die Worte für das, was ihr dort begegnet, fehlen. Fürsorge, Behaglichkeit, Vertrauen, Liebe – all das kannte sie nicht in ihrem früheren Leben. Aber die Kinsellas haben ein Geheimnis. Die Kleidung aus der Truhe, das man dem Mädchen zum Anziehen gibt, gehörten dem verstorbenen Sohn der Familie. Es geht hier um das langsame Annähern der Personen zueinander, still und poetisch erzählt.
Petra haben „Reichlich spät“ oder auch „Kleine Dinge wie diese“ von der Autorin sehr gut gefallen, aber die Neuübersetzung dieses schmalen Bändchens hat sie restlos begeistert.
Unsere Juli-Empfehlungen
Paul Lynch „Das Lied des Propheten“
Die NZZ schreibt: „Es hat nur einmal in einem Jahrhundert einen Franz Kafka gegeben, und in diesem gibt es nur einen Paul Lynch.“ Mit „Das Lied des Propheten“ ist dem Autor eine geniale Dystopie gelungen, die ordentlich unter die Haut geht. Irland befindet sich in der Gewalt einer faschistischen Regierung, die auf dem Weg in die Tyrannei ist. Aus der Sicht von Eilish Stack, der vierfachen Mutter, Ehefrau eines Lehrers, der sich in der Gewerkschaft engagiert, und Tochter eines dement werdenden Vaters, erfahren wir, wie es ist, wenn einem die Regierung nach und nach die Kontrolle über ein selbstbestimmtes und freies Leben entzieht. Eilish tut alles in ihrer Macht stehende, um die Familie zusammenzuhalten und zu beschützen, aber wie soll man klare Entscheidungen treffen, wenn alles um einen herum verschwommen und unsicher ist?
Es ist ein erschütterndes Buch, das absolut den Nerv unserer Zeit trifft und gleichzeitig so poetisch und bildhaft geschrieben, was es nur umso eindringlicher macht und tiefer unter die Haut gehen lässt. Was würde ich als Frau, Ehefrau, Mutter und Tochter tun, würde ich rechtzeitig den Absprung schaffen, die Zeichen richtig deuten oder denken, es wird schon wieder vorüber gehen? Egal, welche Entscheidung man trifft, man verliert … Aus dem Englischen übersetzt von Eike Schönfeld.
Roisin Maguire „Mitternachtsschwimmer“
An alle, die „Offene See“ von Benjamin Myers ebenso gefeiert haben, Ohren, Augen und Herzen auf, hier kommt euer neues Lieblingsbuch! Wir befinden uns in Ballybrady, ein kleines Dorf an der irischen Küste. Hier lebt Grace. Grace hat einen Esel, ist selbst auch stur wie einer, und einen gruselig aussehenden Hund, der zu ihrer großen Freude den Touristen und Touristinnen am Strand eine Heidenangst einjagt. Abends gehts mal auf einen Whisky in die Dorfbar oder in den kleinen Laden der gutmütigen Becky, aber ansonsten hat sie es mit den Menschen nicht so. Das ändert sich, als sich Evan in ihrem alten Cottage einmietet und dort verweilt, als Corona Einzug hält. Evan versucht, vor einem tragischen Verlust zu fliehen, die Zeit am Meer soll ihn wieder auf Kurs bringen. Nun, erstens kommt alles anders, zweitens als Evan und Grace denken … „Mitternachtsschwimmer“ ist ein sehr warmherziger, kluger und wunderbar irischer Roman, dessen seelenvolle Charaktere man nicht mehr aus dem Herzen lassen möchte … nicht einmal den gruseligen Hund … Mal wieder wunderbar übersetzt von der großartigen Andrea O’Brien!
John Niven „O Brother“
Diese Buch widmete John Niven seinem mit 42 Jahren durch Suizid verstorbenen Bruder
Gary. Beide Brüder wuchsen gleich auf in der schottischen Kleinstadt Irvine, John wird
erfolgreicher Manager einer Plattenfirma, Gary wird Kleinkrimineller.
In diesem intensiven, anrührenden Buch über eine Geschwisterbeziehung versucht John
Niven zu verstehen. Was ist passiert mit seinem Bruder Gary, der in frühen Jahren das
geschafft hat, was er nicht erreichte: cool, unbeugsam, meistens im Mittelpunkt, umringt von den schönsten Mädchen. Aber auch unfähig, sich zu entschuldigen, Fehler einzugestehen, impulsiv und den Drogen sehr zugetan. Steine werfen, Schule schwänzen, Dealen. Gary, das schwarze Schaf der Familie. An welcher Stelle ist er falsch abgebogen? Hätte John das sich anbahnende Drama nicht verhindern können?
Herzzerreißend und erschütternd ist das Buch und eine Liebeserklärung von John Niven
an seinen Bruder, Gary der diesem Leben nicht gewachsen war. Aus dem Englischen übersetzt von Stephan Glietsch.
Céline Tlili „Ein Sommerabend“
Da sind vier Freunde: Etienne – charismatisch, weitgereist, gutaussehend, durchsetzungsstark, manipulativ, seine Freundin Claudia – extrem schüchtern, zurückhaltend, in seinem Schatten stehend, Johar – tunesische Wurzeln, knallharte Managerin in einer Männerdomäne, eine
langersehnte Beförderung und der damit verbundene Chefposten stehen an, und Remis – ihr gutgelaunter, aber abtrünniger Ehemann. Ein Sommerabend im August, man trifft sich in Etiennes großzügiger Altbauwohnung, von Claudia bestens bewirtet. Eigentlich hat keiner so richtig Lust auf ein Abendessen an diesem lauen Abend, doch für Etienne geht es um viel. Beruflich könnte es besser laufen, dazu könnte Johar wesentlich beitragen. Claudia ist geplagt von der Angst, etwas falsch zu machen, Remis möchte in erster Linie an sein Handy kommen, Etienne verfolgt ein klares Ziel und Johar überdenkt ihr Leben. Der Alkohol fließt, so richtig wohlgesonnen ist man sich dann doch nicht, die Masken fallen, Abgründe tun sich auf.
Mitarbeiterin Petra hat das Buch mit seinem bürgerlichen Setting und seiner Gesellschaftskritik an das geniale Kammerspiel von Yasmina Reza „Gott des Gemetzels„ erinnert. Ihr haben bei dem Erstlingswerk der Französin Cecile Tlili die präzise gezeichneten Figuren gefallen, die überraschenden Wendungen und die Frauen, die, ohne viel Worte machen zu müssen, zusammenhalten. Das Buch hat Petra,mehr als nur einen schönen Sommerabend beschert! Aus dem Französischen übersetzt von Norma Cassau.
Unsere Juni-Empfehlungen
Sarah Winman „Das Fenster zur Welt“
Vor einiger Zeit schon lag dieses Buch mit lieben Grüßen aus dem Lektorat von Klett-Cotta in meinem Briefkasten. Nun sprachen mich Cover und Klappentext allerdings so überhaupt nicht an, weswegen es erstmal in den Schrank mit den Leseexemplaren gewandert ist … bis eine liebe Buchhändler-Kollegin vor Kurzem in den Laden stürmte und es mir quasi medizinisch verordnet hat. Tja, und nun hat es auch mich erwischt …
„Das Fenster zur Welt“ von Sarah Winman hat mich schlichtweg umgehauen. Der Plot ist eigentlich schnell umrissen, es sind die Dialoge, Milieubeschreibungen und Schicksalswendungen der durchweg starken Charaktere, die den Roman zu einem wahren Kopfkino machen:
Die ältere Kunsthistorikerin Evelyn, die es sich auf die Fahne geschrieben hat, Kunstwerke vor den Nazis in Sicherheit zu bringen und der junge britische Soldat Ulysses begegnen sich im Sommer 1944 in der Toskana. Nach einem bombenumtosten und weingetränkten Abend verbindet sie ein freundschaftliches Band, das die Jahrzehnte überdauern wird. Auf ihr Schwärmen hin siedelt Ulyssses aus dem rauen und verruchten Londoner East End ins Florenz der Nachkriegsjahre über. Im Gepäck Papagei Claude (trifft mit seinen Kommentaren stets ins Schwarze), Alys, die Tochter seiner großen Liebe Peg und einen seiner besten Freunde, Cress, der hellsichtig ist (sehr praktisch beim Wetten) und sich gerne mit (s)einem Baum berät. Diesen inneren Zirkel, an welchem sich immer wieder weitere Freund*innen und Bekannte ausrichten, begleiten wir bis in die 1980er-Jahre, und auch Evelyn stattet uns regelmäßig einen Besuch ab.
Winmans Roman, gekonnt übersetzt aus dem Engl. von Elina Baumbach, vereint einen herrlich trockenen, englischen Humor mit dem überschwänglichen italienischen Lebensgefühl. Er ist ganz natürlich und unangestrengt queer, feiert die starken Frauen, zelebriert Kunst und Kultur und flicht zwischen den Zeilen ein wenig Weisheit hinein.
Elke Heidenreich „Altern“
112 Seiten für die Rückschau auf ein ganzes Leben? Elke Heidenreich schafft das in ihrem neuen Buch. Knapp bemessen und treffsicher in der geschätzten Elke Heidenreich-Manier schreibt sie, meist im Plauderton, über das Alter. Zipperlein, Sammelstücke vom Flohmarkt – Vieles kommt im Leben, wenn wir älter werden, dazu. Doch was ist wichtig, was unwichtig? Was kann bleiben, was muss weg? Was hat Bestand, an was hängt das Herz? Darf man den Nachkommen sentimentale Gegenstände hinterlassen, deren Wert in ihrer Geschichte liegen? Im Alter trägt man die Konsequenzen für alles, was man getan hat. Vieles verliert man mit dem Alter, aber man gewinnt auch, und das ist im Idealfall Gelassenheit.
Elke Heidenreich unterlegt ihr Buch mit den schönsten Zitaten zum Thema „Alter“ aus der Weltliteratur (Mein Lieblingszitat ist das von Robert Walser: „Man sieht den Wegen im Abendlicht an, dass sie Heimwege sind …“). Sie schreibt berührend, ehrlich, klug, persönlich und, was ich so schätze, vollkommen uneitel und schafft so ein Lesevergnügen zu einem doch so ernsten Thema, das zum Nachdenken, aber auch zum Schmunzeln anregt. Ein Zitat hat mir noch gefehlt, ich füge es hiermit dazu, da es mir persönlich sehr gut gefällt: „In der Jugend lernen wir, im Alter verstehen wir“ (Marie von Ebner-Eschenbach). So könnte es doch sein, oder? Ein ganz persönlicher Tipp von Petra Schulz
Franziska Gänsler „Ewig Sommer“
Auch in dem ehemaligen Kurort Bad Heim brennt es, seit Langem schon, und die Bevölkerung wird über Polizeidurchsagen und Warnapps informiert. Bleiben Sie zu Hause, tragen Sie eine Schutzmaske, gehen Sie zu den Evakuierungspunkten – Das normale Leben existiert bis auf einen kümmerlichen Rest nicht mehr. Längst kommen keine Tourist(inn)en mehr, die Bewohner*innen ziehen weg, Fenster sind aus Schutz gegen die Hitze mit Folie abgeklebt. Die Hotelbesitzerin Iris aber bleibt. Das Hotel mit dem außergewöhnlichen japanischen Garten ist schon lange in Familienbesitz – außerdem: Wo sollte sie auch hin? Auch wenn das Hotel (noch) durch einen Bach von den wütenden Waldbränden getrennt ist, kommen auch zu ihr schon lange keine Gäste mehr. Doch dann taucht eine junge Mutter mit Tochter auf. Sie wirkt verstört, gedankenversunken, scheint auf der Flucht zu sein, vernachlässigt offensichtlich ihre Tochter. Existenzielle Themen beschäftigen beide Frauen im Ausnahmezustand bei diesem intensiven Aufeinandertreffen.
Wenn es nicht so makaber wäre, würde ich sagen: mein brandheißer Tipp … aber ich sage es trotzdem! Petra Schulz
Unsere Mai-Empfehlungen
Martina Bogdahn „Mühlensommer“
Maria wollte als ganz junge Frau nichts wie weg vom elterlichen Bauernhof, weg von dem der Kleidung anhaftenden Schweinestallgeruch, weg von der harten körperlichen Arbeit, weg von der Großmutter, die wenig Verständnis für Träumereien hatte. Nun kehrt sie als erwachsene Frau und Mutter zweier Töchter auf den Hof zurück, als sie erfährt, dass ihr Vater einen Unfall hatte, um der Familie beizustehen. Im Licht und Duft eines heißen Sommertages auf dem Land kehren die Erinnerungen an die auf dem Hof verbrachte Jugend zurück und gemeinsam mit der kleinen Maria erleben wir und erinnern uns, was es bedeutet, auf dem Land groß geworden zu sein. Zwischen Kirchbank und Schulbus, Verpflichtungen, Stallgeruch und bäuerlicher Härte. Aber auch zwischen den Weiten wogender Getreidefelder, der Verbundenheit und Selbstverständlichkeit der Natur um sie herum, mit einer Ruhe im Herzen, dass alles auf dieser Welt seinen richtigen Platz zugeordnet bekommt. Doch dass die erwachsene Maria langsam wieder zurück nach Hause findet, finden nicht alle Familienmitglieder gut und schließlich will eine lange verdrängte Frage zwischen ihr und ihrem Bruder Thomas endlich beantwortet werden.
Caroline Wahl „Windstärke 17“
Ich beantworte hier zunächst die zwei Fragen, die mir am häufigsten zu dem Buch gestellt werden: Ja und Weder noch. Ja, es ist gut, es ist sogar sehr gut, und es ist weder schlechter als die „22 Bahnen“, noch besser. Tatsächlich ist es der jungen Autorin gelungen, nach ihrem fulminanten Debüt einen Roman zu schreiben, der an diesen Erfolg anschließen kann und das tut er auch inhaltlich. Wir kennen Ida bereits aus den 22 Bahnen, die kleine Schwester von Tilda, ein ganz besonderes Mädchen, anders als die anderen in ihrem Alter. Sie zeichnete lieber als dass sie mit Altersgenoss(inne)en spielte, so wie sie selbst von dem Zusammenleben mit der alkoholkranken Mutter gezeichnet war. In „Windstärke 17“ begegnen wir ihr, wie sie als nun junge, erwachsene Frau zwei Monate nach dem Tod der Mutter aus der Wohnung flüchtet, in der sie groß geworden ist. Am Bahnhof sucht sie sich den Zug aus, der am weitesten weg fährt und landet schließlich auf Rügen. Im Gepäck einen ordentlichen Klumpen an Wut, Schuld und Trauer, den sie mehr oder weniger erfolglos versucht wegzuschwimmen. Es sind Knut, ein grummeliger Barbesitzer und seine Frau Marianne, die Ida bei sich aufnehmen und sie auffangen, indem sie sie so sein und trauern lassen, wie sie ist und möchte. Keinen Anker, aber dennoch eine Art von Leichtigkeit findet Ida in Leif, bevor ihre Welt erneut aus den Angeln gehoben wird. Caroline Wahl hat einen unverwechselbaren Sound, der einfach mitreißt, aufwühlt und trotzdem tröstlich wirkt.
Fang Fang „Glänzende Aussicht“
Übersetzt aus dem Chinesischen von Michael Kahn-Ackermann. Elf Personen hausen in einem Verschlag von 13 qm, das Wort “leben“ wäre verfehlt. Alle sieben Minuten fährt mit ohrenbetäubendem Lärm ein Zug vorbei. Die neun Kinder existieren mit den Eltern unter unvorstellbaren Verhältnissen in Wuhan der 1980er-Jahre. Den eindeutig besten Platz hat Kind Nummer 8 (die vielen Kinder haben nur Nummern), er starb 14 Tage nach der Geburt und wurde vor der Hütte begraben und ist der Chronist der Familie. Aus der Distanz, seltsam emotionslos, erzählt er von dem gnadenlos brutalen Alltag der Familie. Der Vater, ein gewalttätiger Säufer, prügelt seine Kinder, die Mutter ist ihm treu ergeben. Vor allem Nummer 7 hat sehr zu leiden. Bei ihm vermutet der Vater einen anderen Erzeuger und behandelt ihn noch schlimmer als den Rest der Familie. Ausgerechnet Nummer 7, vollkommen abgestumpft, kehrt nach drei Jahren als gemachter Mann wieder nach Hause.
Die Bücher von Frau Fang Fang sind in China teilweise verboten, wir dürfen sie lesen. Gott sei Dank.
Wilhelm Schmid „Den Tod überleben“
Obwohl der Verlust eines geliebten Menschen zu dem Furchtbarsten gehört, was uns widerfahren kann, wird der Gedanke an den Tod meistens beiseite geschoben. Aber wohin geht der Mensch, der geht? Von dem Philosophen Wilhelm Schmid hätte ich eine wissenschaftliche Erklärung erwartet, aber in diesem Büchlein spielt er viele Gedanken durch. Was bleibt von einem geliebten Menschen?
Ist das, was wir „Seele“ nennen, die Energie des Menschen? Wohin geht sie, wenn wir sterben? Oft meinen wir, diese Energie noch wahrzunehmen. Ist das ein Hinweis auf ein Danach oder nur ein tröstlicher Gedanke für die Hinterbliebenen? Antworten gibt auch das schmale Buch nicht, aber es bietet viele Anregungen – und auf jeden Fall Trost.
Unsere April-Empfehlungen
Lana Lux „Geordnete Verhältnisse“
Zehn Jahre ist Faina alt, als sie mit ihren Eltern aus der Ukraine in eine deutsche Kleinstadt zieht. Sie spricht mit einem starken Akzent und ihr Pausenbrot isst sie aus einer selbst gebastelten Brotdose aus Tetrapaks. Zehn Jahre alt ist auch Philipp und aufgrund einer Blasenschwäche nicht gerade der selbstbewusste Typ. Das Schicksal führt die beiden zusammen, Philipp macht Faina schnell zu seiner Faina, die beiden verbringen jede freie Minute miteinander. 17 Jahre später: Philipp lebt inzwischen in einer Eigentumswohnung und geht eher gezwungenermaßen auf wenig erfolgreiche Dates. Faina immer noch in seinem Kopf und Herzen spukend. Diese steht auf einmal wieder vor seiner Türe: abgebrannt und schwanger. Philipp sieht seine Chance als großer Retter und die toxische Beziehung spitzt sich zu … Es ist ein rasanter Roman, der eine breite Gefühlspalette zu bespielen vermag, wobei vor allem Wut und Sarkasmus das Thema bestimmen. Autorin Daniela Dröscher sagt zu Recht über diese abwechselnd von Phillip und Faina erzählte Tragödie: „Eine unerhörte Geschichte! Jeder Satz ist eine mit Schmerz und Lachgas gefüllte Pistolenkugel.“
Claire Fuller „Jeanie und Julius“
Dieser Roman, erschienen im Münchner Kjona-Verlag, hat mich von der ersten Zeile in seinen Bann gezogen und am Ende zerzaust, aber erfüllt seufzend wieder losgelassen. Wiltshire, im Südwesten Englands: Die beiden Geschwister Jeanie und Julius, beide schon über fünfzig Jahre alt, leben mit ihrer Mutter Dottie in einem abgelegenen, in die Jahre gekommenen Cottage. Sie ernähren sich von ihrem wilden Garten, Julius nimmt zusätzlich Gelegenheitsjobs an. Die Familie ist arm, aber dennoch stolz, gemeinsam musizieren sie und es gibt viele glückliche Momente miteinander. Dann jedoch stirbt Dottie und es gerät alles aus den Fugen. Und so einiges, was den Geschwistern im Laufe ihres Lebens von der Mutter als gegeben erzählt wurde, entpuppt sich als Lüge … Dieser Roman ist gleichermaßen rau und anziehend, so wie die Landschaft, in der er spielt. Andrea O’Brien ist eine so zärtliche und detailreiche Übersetzung gelungen, dass man sich sofort direkt in der Szenerie wähnt.
Jane Gardam „Gute Ratschläge“
Elizabeth Peabody ist der Schrecken der Nachbarschaft. Ihr Hobby: das Erteilen guter Ratschläge in schriftlicher Form, sprich, als Briefe. Diese flattern vorwiegend zu Joan, einer Nachbarin in der ruhigen Rathbone Road, die anscheinend Mann, Haus und Kinder verlassen hat. Diese Briefe voll mit moralischen Aufrufen, ungeschminkten Wahrheiten, alltäglichen Beobachtungen werden nicht beantwortet, was die Briefeschreiberin nicht zu stören scheint. Immer heftiger schreibt sie ihr, mittlerweile ist ihr Gatte abgängig, immer persönlicher und länger werden ihre Briefe. Irgendwann erwarten auch wir als Lesende schon keine Antwort mehr. Und überhaupt scheint ihre Wahrnehmung nicht deckungsgleich zur Realität zu sein, feine Haarrisse tun sich auf. Arbeit ist in diesen Kreisen Sache der Männer, Frauen betätigen sich gerne wohltätig. In Elizas Fall führt der Weg in ein Hospiz, sie arbeitet dort „mit Sterbenden“ wie sie sagt, will in diesem Fall heißen, sie räumt die Geschirrspülmaschine aus. Freundschaft schließt sie mit einem jungen Mann, namens Barry, 22, der ihr Sohn sein könnte. Ihm erzählt sie viel aus ihrem Leben. Aber stimmt das wirklich alles? Vorsicht, vertrauen Sie nicht Eliza Peabody – aber vertrauen Sie uns. Mitarbeiterin Petra Schulz freut sich über dieses endlich übersetzte Meisterwerk von Jane Gardam und möchte ihre Begeisterung mit Ihnen teilen!
Nathan Hill „Wellness“
Liebe in modernen Zeiten, so könnte man den Roman kurz beschreiben, aber er bietet so viel mehr. Liebe: ja, Jack und Elisabeth, aus den verschiedensten Verhältnissen kommend, werden ein Paar. Elisabeth kommt aus einer reichen, erfolgsorientierten Familie, Jack aus ärmlichen Verhältnissen. Kennengelernt haben sie sich in der quirligen amerikanischen Kunstszene, in die Jack die wohlbehütete Elisabeth mitgerissen hat. Das Leben ist spannend und aufregend, bis das Kind geboren wird. Toby kostet seiner Mutter den letzten Nerv, widersetzt er sich doch vehement den wissenschaftlich fundierten Erziehungsversuchen der Mutter. Eine Wohnung soll gekauft werden und da werden die unterschiedlichen Bedürfnisse spürbar. Elisabeth wünscht sich ein eigenes Schlafzimmer, am liebsten wäre ihr auch ein eigener Eingang, falls die Ehe geschieden werden würde, könne man zumindest die Wohnung behalten, Jack braucht die unbedingte Nähe. Müde sind sie geworden, die vorher so umtriebigen Eltern und da hilft auch ein Besuch einer Swinger Party nicht mehr. Peinlich, wenn man dabei noch von den Nachbarn und Nachbarinnen gesehen wird! Elisabeth verdient ihr Geld bei einem Wellness-Institut, ein netteres Wort für die Placebo-Produkte, die sie vertreibt, Jack fotografiert als Fotograf nicht wirklich, sondern mischt Entwicklerflüssigkeiten. Placebo, darum geht es in diesem Roman, denn was ist wirklich, welche Entscheidung treffen wir unvoreingenommen? Wie gut kennen wir unsere Partner*innen wirklich? Ein praller, fast 800 Seiten dicker, erheiternder Roman, von dem Mitarbeiterin Petra Schulz keine Seite missen möchte.
Unsere März-Empfehlungen
Ester Gonstalla „Atlas eines bedrohten Planeten“
Wie funktioniert eigentlich unser Klima? Warum gibt es immer weniger Trinkwasser? Wie entsteht ein »Müllstrudel«? Wie viel Fläche brauchen wir für unsere Ernährung? Können wir mit innovativer Technik die Welt retten? Antworten auf diese und viele weitere Fragen finden sich in den Grafiken der preisgekrönten Infografikerin Esther Gonstalla. »Das Umweltbuch« zeigt, wie unser Planet funktioniert, und sensibilisiert für seine Vielfältigkeit und Fragilität. Ein Buch für alle, die wissen wollen, wie es um unsere Erde bestellt ist – und welche Ideen und Strategien es gibt, um sie zu retten.
Alexandra Blöchl „Was das Meer verspricht“
Eine kleine Insel im kalten Norden, weit entfernt vom Festland. Nur wenige Menschen sind so tief mit dem rauen Eiland verbunden, dass sie hier leben wollen, die meisten zieht es weg. Umso verwunderlicher ist es, als plötzlich eine junge Frau beschließt, sich auf N. niederzulassen. Marie Quint heißt sie, und nicht nur, dass sie keinem gewohnten Tagwerk nachgeht, wie Schafe hüten oder anderen praktischen Arbeiten, die der Gemeinschaft Nutzen bringen, sie schlüpft auch noch jeden Tag in ihre Meerjungfrauenflosse, um in den kalten und schwarzen Gewässern schwimmen zu gehen. Vida Holt, die ihr ganzes Leben auf der Insel verbracht hat, und sich im Gegensatz zu ihrem Bruder Zander, den Eltern und dem Hof verpflichtet fühlt, ist fasziniert von Marie. Die beiden Frauen freunden sich an, mehr als das. Und ein Sturm beginnt heranzuziehen …
Ann Napolitano „Hallo du Schöne“
„Hallo du Schöne“ – Ja, das habe ich auch immer wieder gesagt, wenn ich das Buch in die Hand genommen habe, denn ist wirklich eine Geschichte, in der man fabelhaft versinken kann. Erzählt wird von den vier Padavano-Schwestern, die unterschiedlicher nicht sein könnten – und von William, der von der Ältesten als ihr Mann für die perfekte Zukunft auserkoren wird. Da hat er bei Julia gar nicht viel mitzureden, und dennoch wird er es sein, der die vier Schwestern auseinander bringt … Es ist ein wunderbar zärtlicher und intensiver Roman über Familie und Zusammenhalt und dem Ausbrechen aus diesem. Die Charaktere sind sehr detailliert und nahbar beschrieben, sodass man sie noch viel länger begleiten möchte, als das Buch Seiten hat.
Dana von Suffrin „Nochmal von Vorne“
Wir kennen den wunderherrlich sarkastischen Schreibstil von Dana von Suffrin noch von „Otto“, dem wahnsinnigen Familienpatriarch, und auch in ihrem neuen Roman schwingt sie die Feder mit gewohnt schwarzhumorigen Esprit. Diesmal erzählt sie die Geschichte der Familie Jeruscher, einer deutsch-jüdischen Familie, in der ein ganzes Jahrhundert voller Gewalt und Vertreibung nachwirkt – und von zwei Schwestern, die sich entzweien und wieder versöhnen, weil es etwas gibt, das nur sie aneinander verstehen. Eigentlich möchte man bei den Jeruschers nur sehr ungern am Abendbrottisch sitzen, es wird gestritten und sich missverstanden und nicht gerade liebevoll miteinander umgegangen, aber genau durch diese Figurenzeichnung kann man nicht anders, als sich bei dieser Familie einem faszinierten Voyeurismus hinzugeben. P.S.: Es gibt noch signierte Exemplare!
Maxim Leo „Wir werden jung sein“
Ein Traum, der die Menschheit wahrscheinlich vom Anbeginn der Zeit verfolgt: Das eine aufzuhalten oder wenigstens aufzuschieben, das uns allen bevorsteht – das Altern. In Maxim Leos Buch gelingt das einigen Teilnehmenden einer Medizinstudie und was das mit ihrem Leben anstellt, beschreibt der Autor auf eine höchst unterhaltsame und vergnügliche Art und Weise. Tatsächlich ist es gar nicht so weit her geholt und Maxim Leo hat sich bei seinen Recherchen auch intensiv damit auseinandergesetzt – 2012 hat der japanische Arzt und Stammzellenforscher Shin’ya Yamanaka den Nobelpreis dafür bekommen, dass man menschliche Zellen durch Reprogrammierung verjüngen kann. Eine Entwicklung, die doch sehr nachdenklich stimmt …
Unsere Februar-Empfehlungen
Alex Capus „Das kleine Haus am Sonnenhang“
Genau vor dreißig Jahren ist Alex Capus erster Erzählband „Diese verfluchte Schwerkraft“ erschienen und es folgten seitdem vierzehn weitere Bücher mit Kurzgeschichten, Romanen und Reportagen. Sein Roman „Léon und Louise“ verzauberte uns alle mit einer traumschönen wie tragischen Liebesgeschichte, das Erzähltalent des Autors ist spätestens seit diesem Buch für viele Menschen weltweit kein Geheimnis mehr.
In seinem neuesten Werk erzählt uns Alex Capus eine sehr persönliche Geschichte über die Liebe zur Literatur und ein Leben im Einklang mit sich selbst. Über die Einfachheit der Dinge, das Loslassen und die Erfüllung in den kleinen Details unseres Lebens. Die wunderbaren Sätze zergehen auf der Zunge und hinterlassen ein warmes Gefühl der Zufriedenheit – ein wahrer Balsam in diesen hochkomplexen Zeiten. Das Buch spielt in den neunziger Jahren in Italien. Alex Capus bezieht ein einsam stehendes Steinhaus am Sonnenhang eines Weinbergs. Dort verbringt er viel Zeit mit seiner Freundin und Freunden, dort sucht er die Einsamkeit, um an seinem ersten Roman zu schreiben. Wie findet man Zufriedenheit im Leben? Warum stets eine neue Pizza ausprobieren, wenn doch die gewohnte Pizza Fiorentina völlig in Ordnung ist? Warum Jagd nach immer noch schöneren Stränden machen, wenn schon der erste Strand gut ist?
Dani Shapiro „Leuchtfeuer“
Das erste Buch, das ich aus dem Frühjahrsprogramm gelesen habe – und das die Messlatte für all die folgenden sofort ziemlich weit oben angesetzt hat! Es beginnt in einer Sommernacht 1985 in einem Vorort von New York: Drei betrunkene Teenager steigen in ein Auto – und nichts ist mehr wie zuvor. Die Familie Wilf zerbricht fast an dem Geheimnis, das sie seit dieser Nacht mit sich trägt und es braucht Jahrzehnte und einen ganz besonderen Jungen aus der Nachbarschaft, bis das Eis bricht und die erlösende Wahrheit die Heilung der Familienmitglieder und den mit ihnen verbundenen Menschen erlaubt. Die Geschichte (übersetzt aus dem Engl. von Klaus Timmermann und Ulrike Wasel) spielt gekonnt mit Zeitsprüngen und wird immer wieder aus einer anderen Perspektive erzählt. Das macht sie nicht nur abwechslungsreich, sondern sorgt dafür, dass einen der Roman bis zur letzten Seite nicht aus seinem Bann lässt. Dabei löst die Geschichte weniger ein Leuchtfeuer beim Lesen aus als vielmehr ein sanft glühendes Leuchten und die tröstliche Gewissheit, darüber dass alles miteinander verbunden ist, und die Menschen, die wir lieben, uns auch über Raum und Zeit hinweg immer nahe sein werden.
Suzie Miller „Prima Facie“
Das Buch von Suzie Miller (aus dem Engl. übersetzt von Katharina Martl) ist eine Wucht. Es ist die knallharte Geschichte einer jungen Strafverteidigerin in London, die sich aus ärmlichen Verhältnissen in die Highclass der Anwälte und Anwältinnen hochgearbeitet hat. Nach dem festen Glauben daran, dass jeder Mensch eine faire Verhandlung verdient, verteidigt Tessa unter anderem Männer, die wegen sexueller Übergriffe angeklagt sind*. Ihre Kreuzverhöre sind legendär. Dann passiert allerdings etwas, dass sie in ihrem Glauben schwer erschüttert …
Die Geschichte lässt beim Lesen eine ganze Palette unterschiedlichster Gefühle abspielen, und ist so raffiniert konstruiert, dass man bis zur letzten Seite mit der Protagonistin mitfiebert und Nägel kauend dem Ausgang des Ganzen harrt …
Der Roman basiert übrigens ursprünglich auf einem Theaterstück und wird im März auch im Münchener Residenztheater aufgeführt …
*Triggerwarnung: Detaillierte Beschreibung einer Vergewaltigungsszene
Iris Wolff „Lichtungen“
Es wird atmosphärisch, lichtdurchdrungen und poetisch … Wer „Die Unschärfe der Welt“ von Iris Wolff gelesen hat, weiß, worüber ich spreche. Die Autorin pflegt einen ganz eigenen Ton, der nicht anders als einfach nur wunderschön und fließend beschrieben werden kann. In ihrem neuen Roman erzählt sie die Geschichte von Lev und Kato, die seit Kindertagen in einem rumänischen Dorf, eine besondere Verbindung zueinander haben. Dabei webt Iris Wolff einen magischen Teppich aus Familiengeschichten, Politik und Historie, Gegenwart und Vergangenheit.
Ich habe ein wenig gebraucht, bis ich verstanden habe, dass die Geschichte von Kato und Lev chronologisch umgekehrt erzählt wird, sodass wir am Ende des Buches am Anfang der Geschichte der beiden ankommen, was nochmal zu einem zusätzlichen Aha-Effekt gesorgt hat. Ansonsten gilt: Zurücklehnen, eintauchen und einfach nur genießen!
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